Gehirngerechtes Lernen – Neurodidaktik & Big Data, KI, VR und Robotik als Fundament eines neuen individuellen Lernens
Neurobiologische Grundlagen
Lernen aus der Sicht der Biologie umfasst die Verstärkung oder Schwächung von neuronalen Synapsen und den daraus resultierenden strukturellen Veränderungen in Neuronen bzw. in neuronalen Netzen („Plastizität“). Dieser Vorgang ermöglicht es dem Gehirn, sich anzupassen und neue Informationen zu speichern, was die Grundlage für Lernen und Gedächtnis bildet.
Viele Erkenntnisse sprechen dafür, dass die meisten Lernvorgänge unbewusst ablaufen – man spricht hier vom impliziten oder nicht deklarativen Lernen. Das Gehirn ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt – der größte Teil der Hirnaktivität sind somit interne Prozesse. 90 % des Lernens bestehen aus eigenen Erinnerungen, Beispielen, Wertungen (mit Vorwissen, Erwartungen), und nur ein geringer Teil von etwa 10 % besteht aus der direkten Wahrnehmung der Wissensvermittlung, dem Lernen in Schule.
Wenn dem so ist, dann muss man das System Schule ernsthaft hinterfragen. Stehen der zeitliche und auch wirtschaftliche Aufwand von Schule dem Ertrag von Lernen in einem angemessenen Verhältnis gegenüber?
Neue Erkenntnisse zur Funktionsweise neuronaler Netze lassen darauf schließen, dass das Gehirn aufgrund bestimmter Nervenzellen – den sogenannten Orts- und Gitterzellen – seine Umwelt (Objekte und Personen) in kognitiven Karten oder Bezugsrahmen abspeichert. Damit ermöglicht sich eine Orientierung in der physischen als auch in der sozialen Welt. Vermutet wird auch eine mentale Repräsentation von Zeit durch sogenannte Zeitzellen.
Die Theorie der „Thousand Brains“ geht davon aus, dass im Gehirn eine Vielzahl solcher Karten existiert und das Gehirn dadurch effizienter und präziser in der Wahrnehmung und Interaktion mit der Welt agieren kann. Unterstützt wird diese Theorie durch das Konzept der Vorhersage von Wahrgenommenem. Diese Theorie beschreibt, wie das Gehirn ständig Modelle und Vorhersagen über sensorische und kognitive Inputs erstellt und diese Vorhersagen anhand tatsächlicher Erfahrungen anpasst („Predictive Coding“ = beste Vorhersage des Wahrgenommenen).
Diese Ansätze betonen die aktive Rolle des Gehirns bei der Interpretation und Anpassung an seine Umgebung, anstatt nur passiv auf sensorische Inputs wie bspw. Sprache zu reagieren und implizieren die Fähigkeit, bisher unerprobtes Verhalten mental durchzuspielen, ohne alle Möglichkeiten real zu erkunden. Mentale Karten oder Bezugsrahmen ermöglichen – ähnlich wie Landkarten – Abkürzungen oder Zusammenhänge zu erkennen, die nicht real erlebt wurden. Das Konstrukt der kortikalen Säulen aus dem Konzept der „Thousand Brains“ vermutet, dass auch abstraktes Denken wie Sprache, Mathematik, Politik usw. in unserem Gehirn gespeichert wird. Die neurodidaktische Umsetzung dieser Erkenntnisse in den Unterricht kann bspw. durch Lernlandkarten, Mindmaps oder Advance Organizer erfolgen.
Die Didaktik spielt eine zentrale Rolle beim Lernen und Lehren, da sie sich mit den Theorien und Methoden des Lernens und Lehrens befasst. Sie untersucht, wie Bildungsinhalte am besten vermittelt werden können und wie Lernprozesse effektiv gestaltet werden können. Dazu gehören bspw. die Planung und Strukturierung des Unterrichts, die Auswahl der Lern- und Lehrmethoden, Motivationsstrategien, der Einsatz von Medien und Technologien, die Auswahl des Lernorts und die Förderung des individuellen, selbstorganisierenden (SOL) und/oder selbstgesteuerten (SGL) Lernen.
Individuelles Lernen & Neurodidaktik
Die Förderung des individuellen Lernens bildet heute die Grundlage aller didaktischen und neurodidaktischen Konzepte – die Umsetzung im System Schule stellt sich jedoch als schwierig heraus. Das Bildungssystem orientiert sich seit vielen Jahren/Jahrzehnten am Durchschnitt. Individuelle Förderung scheitert oft aus zeitlichen Gründen („dem Takt des Stundenplans“). Die Klassen sind zu groß, die Lehrer sind in der Regel „Einzelkämpfer“ – selten ist es möglich, Lehrer-Teams einzusetzen. Die Diskussion über den Umfang und die inhaltliche Bedeutung der Lerninhalte für das Hier und Jetzt wird immer öfter geführt, aber nicht gelöst. Die Lernorte – die schulischen Bestandsbauten und die Klassenräume – sind veraltet und nicht auf individuelles Lernen ausgerichtet.
Der Unterschied zwischen Didaktik und Neurodidaktik liegt in ihrem Ansatz und Fokus auf das Lernen und Lehren. Während die Didaktik allgemein die Theorie und Praxis des Lernens und Lehrens behandelt, integriert die Neurodidaktik Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft, insbesondere der Neurobiologie, um Lernprozesse zu optimieren. Die Didaktik verführt dazu, das Lernen in einzelne Teile zu zerlegen durch die fokussierte Betrachtung von Lern-, Lehr- oder Sozialformen.
Neurodidaktik als „Gesamtkunstwerk“
Die Neurodidaktik hingegen bemüht sich um einen ganzheitlichen Ansatz, einem gehirngerechten Lernen. Sie unterstreicht die Bedeutung von Faktoren wie Neuroplastizität, Pausen und Schlaf, Aufmerksamkeit, Emotionen, Belohnungssystem, körperlicher Aktivität (Bewegung), dem Konzept der Vorhersage von Wahrgenommenem, multisensorischem Lernen und sozialen Interaktionen für effektives Lernen. Durch die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse können Bildungsansätze und -methoden der Didaktik verbessert und besser an die natürlichen Lernprozesse des Gehirns („gehirngerechtes Lernen“) angepasst werden.
Aus diesen Gründen muss auch Unterricht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und zu einem „Gesamtkunstwerk“ verschmelzen. Der Begriff stammt ursprünglich von Richard Wagner, der die Oper revolutionieren und seine Opern als Gesamtkunstwerk gestalten wollte – Ton, Text, Darstellung, Inszenierung, Raum, Emotionen, Schauspiel und vieles mehr sollten ein Erlebnishorizont werden.
Die 4 Pädagogen der Neurodidaktik
Loris Malaguzzi (Erziehungswissenschaftler) definierte für den Lernprozess 3 Pädagogen und verfolgte damit einen ganzheitlichen Ansatz: der „Erste Pädagoge“ waren für ihn andere Kinder bzw. Mitschülerinnen und Mitschüler, der „Zweite Pädagoge“ die Lehrerinnen und Lehrer und der „Dritte Pädagoge“ der Lernraum. Aufgrund der Bedeutung der Digitalisierung in unserer Gesellschaft und der Welt haben wir dieses Modell um einen „Vierten Pädagogen“ erweitert. Digitalisierung – und in diesem Fall primär die Künstliche Intelligenz – ist eine Querschnittstechnologie und die Schlüssel-Technologie des 21. Jahrhundert – und sie wird es wahrscheinlich auch in aller Zukunft bleiben (der einzige Ablöse-Aspirant ist derzeit die Nano- und Quantentechnologie). Die Grundlagen der Nanotechnologie zeigen aber in beeindruckender Weise bereits den möglichen kommenden Paradigmenwechsel auf – denn hier werden anstelle von Transistoren Atome zum Rechnen eingesetzt – und das wird fast alles in der Digitalisierung verändern!
Erstmals wird es im Bildungssystem durch Künstliche Intelligenz möglich sein inhaltlich, methodisch und technisch, für jede Schülerin und jeden Schüler individuelle Lerninhalte für jedes Fach, in jedem beliebigen Medium, online oder offline zur Verfügung zu stellen. Jede Schülerin und jeder Schüler werden dafür nur ihre Daten, d.h. ihren Lernstand und ihr bisheriges Wissen, zur Verfügung stellen müssen. Durch entsprechende, individuelle Lernstandserhebungen wird die KI diese Daten auswerten und daraus entsprechende, individuelle Lernarrangements anbieten können. Lassen sich die Lernenden darauf ein, dann wird die KI die Lernfortschritte erkennen und daraus wieder neue, individuelle Lernarrangements gestalten und somit den Lernprozess immer wieder optimal begleiten und darüber individuelles gehirngerechtes Lernen fördern.
Förderung des individuellen Lernprozesses durch KI-Agenten-Systeme
KI-Agenten-Systeme werden noch einen Schritt weiter gehen. Sie werden es ermöglichen, autonom individuelle Lernprozesse zu optimieren und Lehrkräfte – falls sie dann noch benötigt werden – gezielt zu unterstützen. Dabei können diese Systeme autonom
- den Lernstand von Lernenden ermitteln,
- das Zeit- & Aufgabenmanagement übernehmen,
- die Recherche und Wissensbeschaffung optimieren,
- gezielt Aufgaben, Übungen und Erklärungen multimedial und multilingual anbieten oder erstellen,
- die Kommunikation und die Kollaboration im Lernprozess steuern,
- mentale und emotionale Unterstützung anbieten,
- Lernschwierigkeiten frühzeitig erkennen und passgenaue Lösungen vorschlagen
- den Lernfortschritt von Lernenden individuell analysieren,
- den Lernprozess individuell unterstützen und fördern.
Schaut man sich die möglichen Funktionen solch einer individuellen-Lern-KI an und lässt seinen Gedanken an dieser Stelle freien Lauf, dann stellt sich einem die Frage, welche Rolle Lehrkräfte zukünftig im Lernprozess einnehmen werden? Werden Lehrkräfte überhaupt noch notwendig sein, wenn eine KI-Agent die Steuerung des individuellen Lernprozesses übernimmt?